Arge Ja zur Umwelt, Nein zur Atomenergie



GefÄhrlicher Unfall im schwedischen Atomkraftwerk

AKW Forsmark: Geisterfahrt knapp vorbei an der Kernschmelze?

Eine Im Jänner veröffentlichte interne Analyse der Kraftwerksmitarbeiter beschreibt den vorjährigen Unfall im schwedischen Atomkraftwerk als Höhepunkt eines langfristigen Verfalls der Sicherheitskultur

Am 25.Juli 2006 kam es in dem schwedischen Atomkraftwerk Forsmark kurz nach der Mittagspause in einer Hochspannungsschalteranlage zu einem Kurzschluß, der die Stromversorgung vom Netz zum Zusammenbruch brachte. Automatisch kam es zu einer Schnellabschaltung des Reaktors. In solchen Fällen schalten sich normalerweise vier Notstromgeneratoren an und erzeugen den dringend erforderlichen Strom für das Betreiben der Kühlwasserpumpen. Diese müssen die gewaltige Hitze aus den abgeschalteten, aber immer noch massiv nachglühenden Brennstäben abführen. Fallen diese Pumpen für längere Zeit aus, kommt es innerhalb kurzer Zeit zur Kernschmelze. Jedoch nur zwei von vier Dieselgeneratoren sprangen an, und nur vier anstatt acht Pumpen liefen. Verschlimmert wurde die Situation noch, weil - was laut technischer Auslegung nie hätte passieren dürfen - der Kurzschluß von außen ins Innere des Kraftwerks durchgeschlagen hatte und zahlreiche Geräte, Teile der Computerüberwachung und der Anlagensteuerung lahmlegt hatte. Die Mannschaft hatte daher keinen zuverlässigen Überblick über den Reaktor mehr und mußte wie im Blindflug agieren.

Der glühende Reaktorkern muß unbedingt unter Wasser bleiben. Tatsächlich kam es aber zu einem ständigen Absinken des Kühlwasserpegels von vier auf etwa zwei Meter, wobei man über das Ausmaß zunächst im Dunkeln tappte. Erst nach zwanzig Minuten gelang es, die beiden anderen Notstromaggregate von Hand aus anzufahren und die Kontrolle über den Reaktor wiederzugewinnen.

Lars-Olov Höglund war als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall - Konzerns für das Atomkraftwerk in Forsmark zuständig und kennt den Reaktor daher genau. Nach seiner Meinung konnte die Kernschmelze nur durch ein Glück verhindert werden. Denn es seien zwar zwei der vier Notstromgeneratoren angesprungen, doch "Die unheimliche Wahrheit ist, daß niemand weiß, warum diese beiden funktioniert haben und nicht auch ausgefallen sind. Wären jedoch alle vier ausgefallen, hätte niemand mehr das Schlimmste verhindern können, und der Kern wäre geschmolzen." Sieben Minuten später wäre die Zerstörung des Reaktors nicht mehr aufzuhalten gewesen, mit der Folge einer Kernschmelze eineinhalb Stunden später. Was sich an seiner alten Arbeitsstätte abgespielt habe, sei der schlimmste Störfall seit Harrisburg und Tschernobyl.

Sowohl der AKW-Betreiber Vattenfall als auch die staatliche schwedische Atomaufsichtsbehörde SKI wiesen diese Einschätzung als übertrieben zurück. Der Vorfall wurde nur auf Stufe 2 der siebenstufigen Ines-Skala eingestuft, weil ja keine Radioaktivität freigesetzt worden sei.

Ole Reistad, Abteilungsleiter der Strahlenschutzbehörde im Nachbarland Norwegen, nimmt den Vorfall allerdings ernster als seine schwedischen Amtskollegen. Im Forsmark habe man "nahe vor einer Katastrophe und vor dem Wegfall der letzten Sicherheitsbarriere” gestanden. "So etwas hätte nie passieren dürfen." Auch ein im "Spiegel" veröffentlichter interner Bericht der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), kommt zu dem Schluß, daß die Anlage nach dem Ausfall der gesamten Stromversorgung nur noch 18 Minuten von einem Horrorszenario entfernt gewesen wäre.

In einer Ende Jänner bekannt gewordenen internen Analyse der Mitarbeiter des AKW Forsmark werden die Hintergründe für das Versagen am 25. Juli 2006 zusammengefaßt: Der Störfall stelle den Höhepunkt eines langfristigen Verfalls der Sicherheitskultur dar, bedingt durch den Druck nach immer höherer Stromproduktion. Die Modernisierung der Anlage sei viel zu schnell erfolgt, lange bekannte Fehlkonstruktionen seien einfach ignoriert worden. Die Mitarbeiter stellen fest: "Wir können uns doch nicht nur darauf verlassen, immer Glück zu haben."

Wie hoch der Druck auf maximale Stromproduktion tatsächlich ist, geht auch daraus hervor, daß die Betreiber das Kraftwerk sofort nach dem Störfall nicht etwa ganz heruntergefahren haben, sondern den Reaktor in warmer "Wartestellung" gehalten haben, um ihn möglichst schnell wieder auf Vollleistung bringen zu können. Dieser Verstoß gegen die Betriebsbestimmungen und das schwedische Atomgesetz hat die Aufsichtsbehörde SKI nun immerhin veranlaßt, Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten.

Die Lehre daraus? - Der Druck zu maximaler Stromproduktion und entsprechenden Profiten wächst nicht nur in Forsmark, sondern in liberalisierten Märkten überall auf der Welt. Es ist auch anzunehmen, daß sich Störfälle in Europa zukünftig schon aus dem Grund häufen werden, weil die meisten in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke schon ziemlich alt sind und daher allein deswegen schon anfälliger für Störungen sind. Was allerdings nicht anzunehmen ist, ist daß AKW-Betreiber überall auf der Welt bei vergleichbaren Störfällen soviel Glück haben wie in Forsmark.

Christiane Schmutterer
(Neue Argumente Ausgabe 107, April 2007)

Seite drucken